Wo liegen die Grenzen zwischen Psychotherapie und Coaching?

[Last edit 12.02.2023]

Im Leben eines jeden Menschen gibt es Phasen, in denen unvorhergesehene Ereignisse ihn ins Straucheln bringen und aus der Bahn werfen. Verluste, Schicksalsschläge, schlimme Krankheitsdiagnosen oder persönliche Tiefschläge sind nur ein paar davon. Sie hinterlassen Stressspuren, sogenannte stress imprintings im Nervensystem.

Jeder Mensch ist dafür von Natur aus mit Fähigkeiten der Selbstregulierung ausgestattet und hat einen individuellen Toleranzbereich, innerhalb dessen er diese stress imprintings verarbeiten kann. Diese Regulierungsfähigkeiten sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängen von zwei Faktoren ab: der Intensität der jeweiligen Erfahrung und der Gesamtkonstitution zum Zeitpunkt des stress imprintings. Sind wir zum Beispiel ohnehin schon nervlich am Limit, wenn uns eine Hiobsbotschaft erreicht, können wir uns nicht mehr so gut abfangen als wenn wir vorher völlig ausgeglichen gewesen wären.

Die Therapieforschung hat herausgefunden, dass selbst sehr schwere Erlebnisse nach einer gewissen Zeit meist gut überwunden werden und in ca. 80% der Fälle kein Trauma zurück bleibt. Das Erlebte ist einem noch in Erinnerung, strahlt aber nicht mehr negativ in die Gegenwart hinein. Die Emotionen von damals, vielleicht Angst, Schock, Enttäuschung oder Wut, sind verarbeitet, nicht mehr aktiv. Sie sind zu einer neutralen Information geworden.

Doch es kommt auch zu Belastungssituationen, die einen Menschen noch lange Zeit verfolgen, selbst wenn sie schon lange vorbei sind. Das passiert den gesündesten und widerstandsfähigsten Menschen. Wir können uns nicht dagegen wehren, was in uns nachwirkt und wie massiv – es passiert einfach.

Die persönlichen Grenzen

Was nun, wenn ein Mensch von einem Ereignis wirklich tief getroffen wird, wenn davon etwas derart „hängen bleibt“, dass die natürlichen Regulierungsmechanismen einfach nicht ausreichen, um darüber hinweg zu kommen?

Was, wenn diese Spuren noch so mächtig sind, dass sie das Wohlbefinden und den Handlungsspielraum stark beeinträchtigen? Wenn sich ein Trauma gebildet hat, das Betroffene quält und es ihnen unmöglich macht einem normalen, geregelten Alltag nachzugehen?

Wenn Menschen sich dann entscheiden, sich Unterstützung zu holen, dann stellt sich die Frage: Wobei kann ein Coaching helfen und wann ist es eher angebracht, eine Therapie zu beginnen?

Zwischen den beiden Formen bestehen wichtige Unterschiede und auch rechtlich relevante Abgrenzungen, und hier möchte ich ein paar der wichtigsten Punkte nennen.

Im Coaching

  • Es werden Themen aus Berufs- und Privatleben bearbeitet, die der Klient oder die Klientin freiwillig wählt, aus dem Wunsch heraus sich weiter zu entwickeln und die Lebensqualität oder Leistungsfähigkeit im jeweiligen Bereich zu verbessern. Das können durchaus intensive, stressende Themen sein.
  • Der Klient oder die Klientin ist stabil und psychisch normal belastbar.
  • Coaching zielt eher gegenwartsbezogen oder zukunftsorientiert auf Lösungen und neue Perspektiven ab. Es wird nur im Bedarfsfall und ganz gezielt in der Vergangenheit nach Ursachen geforscht.
  • Es werden keine Diagnosen gestellt, keine Krankheiten oder Krankheitssymptome behandelt. Allerdings können sich positive Effekte auf das Gesamtbefinden auswirken und indirekt einen förderlichen Einfluss haben, zum Beispiel wenn das Coaching auf persönliche Stärkung abzielt.
  • Krankenkassen kommen in der Regel nicht für die Kosten auf, die Sitzungen werden privat bezahlt. Im beruflichen Coaching-Kontext können Rechnungen allerdings mit etwas Glück über die Einkommenssteuer geltend gemacht werden.
  • Ein Coaching-Prozess besteht meist aus mehreren Sitzungen, ist aber immer zeitlich begrenzt. Das Anliegen des Coachs ist, dass der oder die KlientIn den Rahmen für eigene Lösungen, Erkenntnisse und Entwicklungen erhält und das selbstgewählte Ziel aus eigener Kraft erreicht.
  • Coach und KlientIn bestimmen gemeinsam den Inhalt und Ablauf, arbeiten auf Augenhöhe zusammen.

Beispiele für Coaching-Inhalte

Kränkungen, innere wie auch zwischenmenschliche Konflikte, Trennungen, Niederlagen, Misserfolge, finanzielle Durststrecken, Unfälle oder stressende Erfahrungen, wie z. B. ein turbulenter Flug („Mini-Trauma“, allerdings nicht im medizinisch-therapeutischen Sinne), Schlafstörungen aufgrund von Stressbelastung, Vorbeugung von Burn-out und Bore-out, Schwierigkeiten mit Selbstmotivation, starkes Lampenfieber vor Reden oder Auftritten, oder Prüfungsangst bis hin zum völligen Vergessen des Gelernten in der Prüfungssituation (sog. Blackout).

Du merkst schon, hier gibt es Blockaden und Probleme, die durchaus echt nerven und einem das Leben schwer machen können, für die man aber nicht zum Therapeuten muss.

Zur Erinnerung: So etwas kann jedem passieren. Das hat unter anderem mit menschlichen psychischen Schutzmechanismen und Lernprozessen zu tun.

Auch bei der Auflösung von Heißhungerattacken und übermäßigem Genuss kann Coaching helfen, z. B. mit emotionaler Entzauberung von Genussverführern wie Chips, Süßigkeiten usw. oder bei übermäßigem Kaufen von Schuhen oder Büchern. Auch Menschen, die mit dem Rauchen aufhören wollen, sind hier richtig, denn das fällt noch nicht in die Kategorie stoffgebundene Sucht, wie bei Alkohol und Drogen.

In der Psychotherapie:

  • Es werden psychische Störungen von Krankheitswert und psychosomatische Leiden behandelt, weil sie das Leben der Betroffenen stark erschweren, oder diese den Alltag innerhalb ihres sozialen Netzes nur schwer oder nicht mehr aufrechterhalten können.
  • Auslöser können die gleichen Themen sein wie beim Coaching, nur dass sie sich viel heftiger und gegebenenfalls in Form von Erkrankungen auswirken.
  • Die normale psychische Belastbarkeit ist nicht mehr gegeben.
  • Die Kostenübernahme erfolgt meistens durch die Krankenkasse.
  • Inhaltlich liegt das Augenmerk eher auf der Analyse der Ursachen und deren Aufarbeitung, ist also meist eher vergangenheitsbezogen bis in die Gegenwart.
  • Es werden viele Sitzungen über einen längeren Zeitraum hinweg angesetzt, um den Therapieerfolg zu überwachen und zu stabilisieren, möglichst bis die Symptome verschwunden oder zumindest deutlich verbessert sind.
  • Die TherapeutInnen bestimmen die Abläufe des Prozesses und haben eher die Führungsrolle, damit traumatische und stark belastende Inhalte aufgearbeitet werden können.

Bei den Berufsbildern ist zwischen ärtzlichem Psychotherapeuten, Psychiater und psychologischem Psychotherapeuten zu unterscheiden. Ärtzlicher Psychotherapeut wird man nach absolviertem Medizinstudium und einer Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten.

Psychiater sind Mediziner, die eine 5-jährige Facharztausbildung abgeschlossen haben. Diese Berufsgruppe beschäftigt sich in der Praxis hauptsächlich mit der medikamentösen Behandlung (Pharmakologie).

Ein psychologischer Psychotherapeut hat zuerst Psychologie studiert und im Anschluss eine 3 – 5-jährige Weiterbildung in einem sozialrechtlich anerkannten Therapieverfahren bestanden.

Heilpraktiker für Psychotherapie haben eine Art Zwischenposition in Abgrenzung zu Coaches inne. Die Ausbildung legt großen Schwerpunkt auf die Erkennung und Behandlung psychischer Störungen und Krankheitsbilder. Die Berufsbezeichnung darf nur führen, wer die Ausbildung absolviert und eine Prüfung beim Gesundheitsamt abgelegt hat. Heilpraktiker für Psychotherapie haben dadurch in Sachen psychische Krankheiten mehr Kompetenzen und Befugnisse als Coaches, haben jedoch auch immer eine Diagnose zu stellen.

Therapie ist angesagt bei

Depressionen, Zwängen, Angstzustände, Panikattacken, Süchten wie Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht, Verhaltensstörungen wie Aggressionszustände, Traumata, z. B. nach sexuellem Missbrauch oder Gewalterfahrungen, insgesamt bei allen katalogisierten psychischen Krankheiten nach ICD-11 (das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin).

Ein junger Mann hat an seinem Arbeitsplatz an der Tankstellenkasse einen Überfall erlebt, bei dem sein Leben bedroht wurde. Bei ihm haben sich Panikattacken entwickelt. Sobald er versuchte öffentliche, belebte Plätze zu betreten oder überqueren, konnte er sich nicht mehr bewegen. Diese Panikattacken schränkten seine Bewegungsfreiheit und seinen Alltag enorm ein, das ist ein deutliches Anzeichen für einen Therapiebedarf.

Eine erfahrene Berufsmusikerin hat jahrelang immer locker und gelöst ihre Konzerte gespielt. Während einer stressigen Tour entwickelte sich bei ihr auf einmal starkes Lampenfieber. Vor den Auftritten wurde sie auf einmal von Schweißausbrüchen und Nervosität geplagt, sie vergaß während der Konzerte teilweise Liedabläufe und Texte. Sie konnte zwar irgendwie noch auftreten, aber nicht ihre Performance abrufen und ihr beruflicher Erfolg und ihre Kreativität litten enorm. Solcher Leistungsstress kann mit Emotionscoaching gelindert oder sogar ganz aufgelöst werden.

Was Coaching und Psychotherapie gemeinsam haben:

  • Menschen, die Coaches oder TherapeutInnen aufsuchen lernen sich selbst tiefer kennen und verstehen, wie ihre Probleme entstanden sind. Sie lernen über ihre Schwierigkeiten zu sprechen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Sie gewinnen mehr Erfahrung, wie man gut auf sich achtet und erleben eine innere Entwicklung.
  • Voraussetzung für den Erfolg ist eine gute Wellenlänge und vertrauensvolle Allianz zwischen den beiden Parteien. Es werden Ziele gesteckt, die mit der Zusammenarbeit erreicht werden sollen und darauf wird in angemessenen Schritten hingearbeitet.
  • Für Coach und TherapeutIn besteht Schweigepflicht über die Gesprächsinhalte.

Gibt es Überschneidungen?

Es gibt sicherlich eine Grauzone, in der es darauf ankommt, wo man als Betroffene/r landet. Zunächst ist es immer eine gute Entscheidung, sich Unterstützung zu holen. Oft kann man ja selbst nicht wirklich einschätzen, ob Coaching oder Therapie das richtige für die eigene Situation ist. Das ist völlig okay. Ein guter Coach kann dich erstmal auffangen. Er/Sie hat sich mit Aspekten psychischer Krankheiten beschäftigt, um gewisse Anzeichen zu erkennen. Im Zweifelsfall würde er/sie dich bitten, Symptome bei einer Person vom Fach abklären zu lassen oder dich weiter verweisen.

Umgekehrt werden TherapeutInnen dich natürlich nicht wegschicken, wenn deine Probleme nicht zu dem krassesten Level gehören. Wenn du zum Therapeuten gehst, weil du das Gefühl hast Hilfe zu brauchen, ist der Weg sicher richtig. Du solltest deine Belastungen, Sorgen und Nöte ernst nehmen. Allerdings ist es leider oft schwierig und langwierig, einen Therapieplatz zu bekommen, und dann muss ja auch die Chemie zwischen TherapeutIn und PatientIn stimmen.

Tipp von mir: Internet-Checklisten für Symptome bitte nicht als alleinigen Maßstab nehmen – ein Erstgespräch beim Coach/Therapeuten ist immer die bessere Wahl.

Coaches ohne therapeutische Zulassung dürfen keine psychischen Krankheiten und Traumata behandeln. Das wäre schon aufgrund des Berufsethos ein No-Go, aber auch von Rechtswegen ist es nicht zulässig. Selbst wenn der Klient nicht glaubt, eine psychische Krankheit oder ein Trauma zu haben – hier geht es nicht mehr um subjektives Empfinden, sondern um Sorgfaltspflicht.

Ein gutes Coaching kann eine Psychotherapie wunderbar ergänzen, in Abstimmung zwischen Coach und TherapeutIn. Das kann die Aufarbeitung von Therapiethemen sehr positiv ergänzen und beschleunigen.

Coaching kann auch vorbeugend Probleme und Blockaden bearbeiten, die sich später zu etwas Ernsterem entwickeln können, wenn sie verdrängt werden. Eine Burn-Out Prävention, rechtzeitig angesetzt, kann beispielsweise das Risiko mindern, dass ein Mensch irgendwann zusammenbricht und es ohne Therapie nicht mehr geht. Denn unverarbeitete stress imprintings können sich ansammeln und irgendwann die Grenze des Verkraftbaren überschreiten. Dann braucht es nur einen Tropfen, der das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringt.

Insgesamt lässt sich festhalten:

Alle Berufsfelder von Coach, Heilpraktiker für Psychotherapie, psychologischer Psychotherapeut und Psychiater sind wichtig und leisten wertvolle Arbeit. Nur die Zielgruppen sind unterschiedlich, und von Coaching Richtung Therapie gibt es Grenzen.

Wie ist es mit Coaching, wenn ich früher mal in Therapie war?

Wenn du eine Vorgeschichte mit Therapie hast, diese aber abgeschlossen ist und du inzwischen wieder ganz gut im Leben stehst, spricht nichts dagegen ein Coaching in Anspruch zu nehmen. Es kann unterstützen, um das Gesamtbefinden zu verbessern und Stressfaktoren zu verändern. Stress und emotionale Erschöpfung gehören zu den Hauptrisikofaktoren, beispielsweise für Depressionen und viele weitere Krankheiten.

Man kann damit ebenfalls das Risiko eines Rückfalls senken, und ich sage bewusst senken und nicht „ein Rückfall kann vermieden werden“, denn ich will Coaching nicht als Allheilmittel darstellen, auch wenn es sehr tiefgreifend und lebensverändernd wirken kann.

Ich hoffe ich konnte damit ein ungefähres Bild vermitteln, was mit Coaching alles möglich ist und ab wann es sinnvoll ist über eine Therapie nachzudenken.

Hinweis:

Im Rahmen dieses Artikels können nicht alle Einzelheiten berücksichtigt werden. Bei ernsten Problemen, die länger als 3 Monate bestehen und im Verlauf schlimmer werden, nimm dich bitte ernst und hole dir therapeutische Unterstützung.

Alles Liebe und sorge gut für dich!
Deine Silvia

[Photo credits to Stux on Pixabay]